22. November 2022
Enno Schmidt ist Künstler, Filmemacher und Grundeinkommens-Aktivist. Derzeit koordiniert er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Götz Werner Professur für Wirtschaftspolitik und Ordnungstheorie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg die Netzwerkarbeit der Grundeinkommensforschung. Er ist dort Geschäftsführer des interdisziplinären Freiburg Institute for Basic Income Studies (FRIBIS). Zuvor gründete Enno 2006 gemeinsam mit Daniel Häni die Initiative Grundeinkommen Schweiz, 2016 kam es zur Volksabstimmung. Weltweit beachtet wurde sein wegweisender Film „Grundeinkommen – ein Kulturimpuls“. Mark aus dem Expeditionsteam hat mit Enno gesprochen.
Lieber Enno, wo stehen wir in Sachen Grundeinkommen? Aktuell sehen die Zeichen ja eher gemischt aus: Die Linkspartei in Deutschland hat sich mit ihrem Mitgliederentscheid positioniert, in Zürich ist die Initiative zu einem Modellversuch nur knapp gescheitert, in Berlin hat es mit dem Volksentscheid in diesem Anlauf noch nicht geklappt. Ist die Zeit überhaupt schon reif fürs Grundeinkommen?
Wichtig ist, dass man den Weg in Richtung Grundeinkommen geht, auch wenn er lang und wechselvoll ist. In der Schweiz haben wir die Volksabstimmung damals zehn Jahre lang vorbereitet. Uns war dabei immer wichtig, dass der Weg uns auch ernährt, dass wir Freude daran haben und unser Engagement das eigene Leben ist. Viele Projekte scheitern daran, dass man sich zu sehr auf einen gewünschten Erfolg fokussiert und glaubt, wenn der erreicht wäre, dann wäre die Welt gleich anders. Aber wenn man den Weg nicht achtet, aus dem ja das Ziel erst entsteht, sondern nur ein Ziel sieht, dann verhungert man auf dem Weg. Das bedingungslose Grundeinkommen ist ein Thema, das uns die nächsten hundert Jahre beschäftigen wird. Auch wenn schon bald Formen eines Grundeinkommens eingeführt werden, so wird doch die Bedingungslosigkeit das brisante Thema bleiben.
In Deutschland diskutieren wir jetzt übers Bürgergeld, den Nachfolger von Hartz IV. Ein erster Schritt Richtung Grundeinkommen?
Man hört schon am Wording "Bürgergeld": Da ist ein Hauch mehr bedingungsloses Grundeinkommen drin, da geht es schon mehr um Integration und Wertschätzung der Person und weniger um Ausschluss und Stigmatisierung wie bei Hartz IV. Aber konkret ist beim Bürgergeld noch nichts von einem BGE zu sehen. Die Fortschritte sind minimal. Es ist ein ganz leicht entschärftes Hartz IV mit mehr Förderung von Weiterbildung, man kann ein bisschen mehr Erspartes behalten und muss nicht völlig nackt und arm sein, um es zu bekommen. Entscheidend wird sein, wie mit Sanktionen umgegangen wird.
Passt das bedingungslose Grundeinkommen in unsere Zeit, in den Herbst 2022, der von Krisen geprägt ist?
Gerade wer fürs Grundeinkommen eintritt, muss einen Blick auf die globale Realität haben, von Covid über den Krieg in der Ukraine bis hin zur Energiekrise. Manche sagen: Jetzt ist die Gelegenheit! Da bin ich sehr skeptisch. Not ist kein guter Ratgeber fürs bedingungslose Grundeinkommen. Sicher: Jeder anständige Mensch findet es empörend, dass manche in Not und Armut leben, obwohl wir genug haben. Aber die Idee des Grundeinkommens ist ja: Alle Menschen erhalten das Recht, hier auf der Erde an der Gesellschaft teilzunehmen und zu leben, ganz einfach aus dem bedingungslosen Anerkennen ihres Daseins und ihrer Person. Das ist es auch, was die Menschen daran begeistert: dass das bedingungslose Grundeinkommen nichts als den Menschen meint. Keine Funktion, keinen Status, keine spezielle Situation. Ein Grundeinkommen aus der Not heraus für die, „die es brauchen“, würde weiter in eine Spaltung der Gesellschaft führen. Aus der Not heraus nimmt man auch Bedingungen in Kauf, nimmt man Kontrollen in Kauf, die z.B. mit Solidarität begründet werden. Es gibt natürlich auch Interesse daran, ein Grundeinkommen zu diesem Zweck einzuführen.
Welche Interessen meinst Du damit?
Fast jedes große Unternehmen, große Institutionen, waren am Anfang eine gute Idee, die für einen Fortschritt der Menschheit eintraten. Aber wenn wir später nochmal darauf schauen, sieht es oft anders aus. Nehmen wir zum Beispiel die Idee der Banken oder der Börse. Beides gute Ideen. Geld von da, wo es nicht gebraucht wird, dahinzugeben, wo es gebraucht wird. Im Lauf der Zeit ist das aber vielfach zu einem Instrument der Macht über andere geworden. Beim Grundeinkommen kann ich mir schon ausmalen, dass Notsituationen dazu geeignet sind, Menschen in eine bestimmte Richtung zu führen. Nach dem Motto "Hauptsache, Du hast jetzt ein bisschen Geld." Schauen wir nur nach China, wo es bereits ein Creditpoint-System gibt. Das kann man auch mit der Vergabe eines Grundeinkommens verbinden. Am Ende geht es immer um die Intention: Ermöglicht ein Grundeinkommen Deine Biografie, Deine Talente und Deine Eigenart oder geht es eher ums Führen und Kontrollieren?
Welche Hürden liegen sonst noch vor uns, wenn wir an die Einführung eines BGE denken? Oder: Wie stellst Du Dir den Weg zum Grundeinkommen vor?
Es muss eine Mehrheit in der Bevölkerung geben. Nach meiner Erfahrung gibt es immer so ein Fünftel in der Bevölkerung, die sehr offen für Neues und relativ schnell dabei sind. Und vielleicht nochmal 10 %, die sagen: Das könnte klappen. Der Rest ist skeptischer. Trotzdem: Das bedingungslose Grundeinkommen wird vermutlich nicht von einer Partei oder Regierung kommen, weil dort die Interessen andere sind. Es muss aus der Bevölkerung kommen. Dieser Bewusstseinsschritt wird wahrscheinlich noch ein bisschen Entwicklungszeit in Anspruch nehmen. Bei der FRIBIS-Jahrestagung sagte mir jemand: Ich habe das Gefühl, es geht in Deutschland gerade nichts weiter. Aber hier sehe ich, was in Uganda, Kenia oder den USA passiert, und da geht es weiter. Das bedingungslose Grundeinkommen ist ja ein Weltthema, und es gibt immer Hotspots, wo etwas passiert. Vielleicht liegt dieser Hotspot zurzeit eher in Katalonien oder in Nordirland. Mal ist es vielleicht ein Pilotprojekt, mal eher die Wissenschaft, mal eine Figur wie Andrew Yang, der 2020 Kandidat der Demokratischen Partei für die US-Präsidentschaftskandidatur war. Die Orte und die Formen wechseln und ziehen um den Globus.
Aber wie soll die Einführung aus der Bevölkerung heraus funktionieren?
Aus meiner Sicht gibt es zwei Lösungswege. Die eine ist: Wir führen es einfach als Bevölkerung sukzessive selber ein, selbstorganisiert, wie es, so meine ich, auch Michael Bohmeyer von Mein Grundeinkommen sieht. Soweit wir das eben können, ohne auf parteipolitische Zustimmung zu warten, ohne dass wir sozusagen zum vermeintlichen Monarchen hochhangeln. Die politischen Entscheider in einer Demokratie sind ja wir. Der andere Weg ist: direkte Demokratie. In Deutschland ist diese Option schwierig. Daher bin ich damals in die Schweiz gegangen. Denn da gibt es das schon. Ich denke, dass es Volksabstimmungen auf Bundesebene und damit ein Mehr an Demokratie wirklich braucht, nicht nur für direkten politische Entscheidung aus der Bevölkerung, sondern allein schon um die allgemeinen Diskussion über neue Ideen auf einem Hintergrund anzustoßen, dass damit auch ernst gemacht werden kann. Wenn jetzt alle Deutschen vor der Frage stünden: “Stimme ich für ein BGE, ja oder nein?”, dann hätten wir schon eine ganz andere Auseinandersetzung. Ihr von der Expedition Grundeinkommen geht diesen Weg in den Bundesländern. Das, finde ich, ist ja das Geniale an Eurem Projekt. Wichtig ist: Wir sind der politische Souverän, darauf müssen wir uns besinnen.
Gleichzeitig gibt es so viele Menschen, die nicht wählen, das haben wir bei der Landtagswahl in Niedersachsen wieder gesehen. Vielleicht hält uns von der Einführung eines BGE ab, dass viele Menschen sagen: Ist mir egal, das wird eh alles nichts ändern.
Umso mehr ist direkte Demokratie das wichtige Instrument. Da kannst Du was verändern. Es ist dann vielleicht wenigstens die Bevölkerung, die hier und da eine dumme Entscheidung trifft. Und nicht immer nur die Politiker, wo man fast keine selbständig handelnden Personen antrifft. Zumindest hätten wir eine andere Lebendigkeit. Wir würden die Vernunft auf die Ebene der Bevölkerung zurückholen. Ich glaube an die einzelnen Menschen. Jeder Mensch ist immer bemüht, das Beste zu tun, was er kann. Das ist die Frage: Wie schaffen wir Bedingungen, in denen Menschen wachsen können, umsichtig, aufmerksam, verantwortlich, eigenständig, mitmenschlich sein können? Das hängt alles stark mit dem BGE zusammen, aber auch mit der direkten Demokratie. Politikverdrossenheit und Desinteresse bestehen, weil man wieder und wieder erlebt hat, dass man nichts bewirken kann, dass keine Brücke besteht von der Bevölkerung in den Entscheidungsapparat der Regierung.
Viele wollen sich engagieren, aber sie können gar nicht, weil sie zum Beispiel drei Jobs parallel machen.
Und dieser Gedanke, “Ich kann ja nicht”, ist auch mehr als verständlich. Trotzdem gehört es für mich zum Anspruch eines Jeden an sich selbst, nicht zu sagen “Ich kann ja nicht”, sondern nach Wegen zu suchen, wo und wie ich aber doch kann. Wenn Du selbst erstmal den Mut hast, zu sagen: “Davon bin ich überzeugt, da will ich hin”, dann richten sich die Lebensverhältnisse oft auch danach aus, dann ergeben sich Dinge im Leben entsprechend. Jede und jeder darf mehr Mut haben, sich anzusehen, dass mein Leben vielleicht viel mehr von mir selbst gemacht ist, als ich mir denke. Dann kann man es auch anders machen. Das sage ich nicht aus dem gemütlichen Ohrensessel heraus, sondern aus Erfahrung. Wir sind in unserer Lebensführung mächtiger als wir denken, jeder Einzelne von uns, wenn wir in Bewegung kommen. Was Du aktuell tust, ist immer von Bedeutung und kann Dinge ändern, die Du Dir nicht ausdenken kannst. Das BGE öffnet nicht nur den Raum für Unvorhergesehenes, sondern lenkt auch den Fokus auf Dich in Deiner Lebensführung. BGE ist nicht nur nett, denn Mensch sein und Individuum sein sind Herausforderungen.
Nochmal der Blick in die Gegenwart: Corona-Hilfen, Tankrabatt, 9-Euro-Ticket, 49-Euro-Ticket, Energiepauschale … Glaubst Du nicht, dass die Tür ist dafür offen ist, dass wir sagen, wir führen ein BGE ein, bevor wir uns den Stress machen und tausend Pakete schnüren, die am Ende alle vielleicht nicht zielgenau ankommen?
Daran sieht man, wie psychologisch verhakt die Scheu vor der Bedingungslosigkeit einer Hilfe ist. Vernünftig ist es ja nicht, dass die Hilfsmaßnahmen während der Coronazeit immer noch an Bedürftigkeit und Nachweise geknüpft wurden und deshalb oft zu spät und bei vielen gar nicht ankamen. Aber wir haben gesehen: Wenn der politische Wille da ist, ist auch plötzlich Geld ohne Ende da. Insofern könnte man jetzt auch ein BGE einführen. Warum passiert das nicht? Weil es vielen immer noch nicht möglich ist zu sagen: “Komm, hier ist Dein bescheidener Lebensunterhalt, den ja jeder ohnehin und in jedem Fall braucht, und mit dem Dir nicht die Verwendung Deiner Lebenszeit gleich mit bestimmt wird." Stattdessen dieses mechanische “Wenn ich Dir Geld gebe, dann muss das für eine Leistung oder eben für eine Notsituation sein und entsprechend überprüft werden”. Das steckt noch in vielen Köpfen. Es darf nicht um den Menschen gehen. Es muss eine Sache sein, es muss berechenbar sein. Das Empfinden vom Menschen als Mensch ist noch nicht sehr ausgeprägt. Wir urteilen oft sehr ungerecht, weil wir gar nicht wissen, was ein Mensch, der “nichts” tut, eigentlich tut.
Ich denke, es ist auch fehlendes Vertrauen …
Genau. Ich war 2017 für einen Vortrag zum BGE in Sotchi in Russland und hab nach der Veranstaltung meinen Dolmetscher gefragt, was aus seiner Sicht in Russland das größte Problem ist oder was am meisten fehlt. Vor ein paar Jahren, sagte er, hätte er noch gesagt: Korruption ist das größte Problem. Heute wäre das nicht mehr so stark, aber heute würde er sagen, was am meisten fehlt, ist: Vertrauen. Es fehlt Vertrauen. Vertrauen ist die Währung der Gesellschaft. Damit ist nicht nur gemeint, dass ich Dir in dem Sinne vertraue, dass Du tust, was ich von Dir erwarte. Ein solches Vertrauen kann für den anderen auch ein Gefängnis sein. Sondern gemeint ist, dass ich Dir vertraue, weil Du mir als Mensch erlebbar bist und ich Deinem Menschsein vertraue, egal, was kommt und wie schräg Du bist. Wenn ich jemandem Vertrauen schenke, liegt’s nicht an dem, der mein Vertrauen bekommen hat, so zu sein, wie ich mir das vorstelle. Sondern es liegt an mir, das Vertrauen zu halten, wo hindurch auch immer es mich an diesem Menschen führt.
Danke Dir, lieber Enno, für dieses Gespräch.